Mittwoch, 21. September 2011

Warum die US-amerikanische Läufergemeinde auf "180" ist (und was wir damit zu tun haben)

"Auf 180 sein". In Deutschland ist das ein geflügeltes Wort, in der US-amerikanischen Läufergemeinde ein aktuelles Diskussionsthema. Inhaltlich geht es um das Thema Lauftechnik. Genauer: Um die optimale Schrittfrequenz im Langstreckenlauf.

Schon seit Mitte der 80er Jahre kursiert in den USA das Gerücht, dass die optimale Schrittfrequenz eines Langstreckenläufers bei 180 Schritten pro Minute liegt. Auch in einschlägigen Publikationen hierzulande ist diese Empfehlung aufgetaucht.

Diese Empfehlung mutet pauschal an. Dem gesunden Skeptiker stellen sich sofort und mindestens 3 Fragen: Auf welcher Grundlage beruht diese Empfehlung? In welchem Sinnzusammenhang steht der Begriff "optimal"? Hält diese Empfehlung der Realität überhaupt stand? Wenn letzteres zuträfe, hätte das doch für viele leistungsorientierte Läuferinnen und Läufer, Konsequenzen für die Ausgestaltung der Lauftechnik.

Der Reihe nach: Die Herkunft dieser Empfehlung beruht auf Beobachtungen von US-Trainer Jack Daniels, der bei den Olympischen Sommerspielen 1984 beobachtete, dass der Großteil der Elite-Langstreckenläufer sich in diesem Schrittfrequenzbereich fortbewegt - in Rennsituationen wohlgemerkt.

Seine Beobachtung teilte er in Trainerkreisen als faktische Erkenntnis mit, ohne ausdrücklich Empfehlungen für das Lauftraining ableiten zu wollen. Das übernahmen diverse Laufmedien und Amateurtrainer für ihn. Seither ist dieser Wert in der Trainingslehre markant oft gegenwärtig.

Aus meiner Sicht ist das verwunderlich, denn die These, lässt sich mit Videoaufnahmen von verschiedenen Laufveranstaltungen doch leicht widerlegen. Selbst vor den Zeiten von YouTube und co. wäre das mit einfachen TV-Aufzeichnungen und einer Stoppuhr möglich gewesen. Exemplarisch sei auf einen Beitrag von Blogger Pete Larson verwiesen, der den Laufstil von Eliteläufern beim diesjährigen Bosten Marathon ausgezählt hat. Die Variabilität in ähnlichen Geschwindigkeitsbereichen ist offensichtlich.

Zweitens bleibt zu klären, worauf der Begriff "optimal" Bezug nimmt: Aus Trainersicht müsste man doch annehmen, dass es das Ziel ist, die Schrittfrequenz so zu gestalten, dass die biomechanisch effizienteste Fortbewegung, mit den vorhandenen physiologischen Ressourcen, realisiert werden kann. Diese wiederum führt zur schnellstmöglichen Wettkampfzeit.

Doch in der Praxis wurde der Empfehlung dadurch Gewicht verliehen, dass bei Läufern mit orthopädischen Problemen oft kleine Kadenzen in Training und Wettkampf festgestellt wurden. Sie realisierten, im Vergleich zum Durchschnitt, überproportional große Schritte.

Das Fußaufsetzen weit vor dem Körperschwerpunkt ist mit der Bildung hoher Bremskräfte verbunden, die zu orthopädischen Malessen beitragen können. Hier kann die Erhöhung der Schrittfrequenz um 5-10%, bei gleichzeitiger Reduzierung der Schrittlänge, dazu beitragen, die auftretenden Bremskräfte zu reduzieren. Also ohne Einbußen in der Laufgeschwindigkeit hinnehmen zu müssen, denn die bildet sich bekanntermaßen aus "Schrittlänge x Schrittfrequenz".

Bleibt drittens noch der "Realitätscheck" - und damit wird ein zuvor angedeuteter Aspekt weiter ausgeführt): Die biomechanisch effiziente und orthopädisch gesunde Schrittfrequenzgestaltung ist doch maßgeblich abhängig von der zu laufenden Geschwindigkeit, dem Trainingsniveau und anthropometrischen Merkmalen abhängig.

Nachstehende Abbildung zeigt den einfachen Zusammenhang zwischen gemittelten Kadenzen und Schrittfrequenzen bei unterschiedlichen Laufgeschwindigkeiten nach Weyand (hinzugefügt wurden individuelle Messwerte von Blogger Alex Hutchinson):


Hier werden zwei Aspekte deutlich: Die Höhe der Schrittfrequenz wird durch die realisierte Laufgeschwindigkeit determiniert - sie ist nicht konstant. Mit zunehmender Geschwindigkeit, also vom Joggen hin zum Wettkampftempo, steigen Schrittfrequenz und Schrittlänge an. Im unteren Geschwindigkeitsspektrum wird das Tempo überproportional durch die Schrittlänge erhöht. Im oberen Spektrum trägt die Kadenz anteilig mehr zum Geschwindigkeitsaufbau bei.

Durch die Einzelwerte von Hutchinson wird noch unterstrichen, dass es eine interindivduelle Variabilität im Verhältnis zwischen Schrittfrequenz und Schrittlänge bei einer konstanten Geschwindigkeit gibt. Im Vergleich zu den Studienwerten, macht er kleinere Schritte und realisiert eine höhere Kadenz - v.a. bei höheren Laufgeschwindigkeiten. Das Verlaufsmuster ist ähnlich.

Mein Fazit:
  • Es ist unseriös, eine pauschale Empfehlung für die Schrittfrequenzgestaltung abzugeben. Die Schrittfrequenz ist immer variabel und hängt maßgeblich von der zu realisierenden Laufgeschwindigkeit, Körpermerkmalen und Leistungsniveau ab. "Lernen von den Stars" ist hier kontraproduktiv. 
  • Deutet das Technikbild eines Läufers darauf hin, dass bspw. der Fußaufsatz zu weit vor dem Körper platziert ist und dadurch orthopädische Probleme provoziert werden, dann kann die Erhöhung der Schrittfrequenz um 5 bis 10% - über alle regulären Trainingsgeschwindigkeiten hinweg - durchaus eine sinnvolle Maßnahme sein. 
  • Die Schrittfrequenz ist eine einzelne Messgröße, die nicht die Laufleistung allein determiniert. Entscheidend ist, dass ein Läufer die Lauftechnik "sauerstoffsparend" umsetzt (Laufökonomie), ohne Verletzungen hervorzurufen. US-Coach Amby-Burfoot schlägt einen einfachen Test vor, um herauszufinden, welches Verhältnis von Schrittlänge und Kadenz individuell optimal erscheint. Und zwar durch Messung der Herzfrequenz, bei jeweils konstanter Geschwindigkeit und konstanten Bedingungen - z.B. auf dem Laufband - und Ansteuerung verschiedener Relationen von Schrittfrequenz und Schrittlänge. Jenes Verhältnis, das die niedrigsten Herzfrequenzwerte hervorruft, wäre die laufökonomisch sinnvollste Variante. Methodische Einwände seien an dieser Stelle außen vor gelassen.

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