Dienstag, 29. März 2011

Wissenstransfer als Entwicklungsbremse: Sportwissenschaft vs. Trainingspraxis

Mein Blog ist ein Trainingsblog für ambitionierte Läuferinnen und Läufer. Die Tipps, die ich Euch gebe, generiere ich im Kern aus 2 Quellen: Aus meinem sportwissenschaftlichen Wissensfundus und meinen Erfahrungen in der Praxis. Ob meine Vorschläge bei Euch zu optimalen Resultaten führen, kann ich nicht, und eigentlich niemand abschätzen. Überwiegend führen sie zum (Leistungs-)Ziel. Zumindest bei den Läufern in meinem Umfeld und in meinem Fall. Doch womöglich sind die Trainingsinhalte für andere, vor allem fortgeschrittene Läufer, nicht vollends wirksam. Warum das sein kann, zeigte US-Coach Steven Magness letzte Woche in einem Blogbeitrag zum Thema "Non-responders-Why Science conforms to the average".

Trotz aller Erfahrung, sind v.a. Erkenntnisse aus der Sportwissenschaft und das Durchdringen von Zusammenhängen Entscheidungsgrundlage für die Trainingsgestaltung im Leistungssport. Die meisten Fachbücher und Rahmentrainingspläne sind von Wissenschaftlern oder qualifizierten Trainern verfasst. Die Zahl und Qualität der Erkenntnisse hat sich in den Ausdauersportarten in den letzten 15 Jahren stark entwickelt. In der Praxis gelingt der Wissenstransfer aber nicht immer uneingeschränkt.

Es zeigt sich, dass gesicherte Vorgehensweisen beim einen Athleten funktionieren, beim anderen überhaupt keine Wirkung hervorrufen - insbesondere was die langfristige Entwicklung betrifft. Letzterer Typus, der nach mehrwöchigen - und scheinbar vernünftigen - Trainingsinterventionen ohne Fortschritt bleibt, heißt im wissenschaftlichen Jargon "Non-Responder". Doch was ist die Ursache: "Athletentyp" oder "Stimulus"?
Zu dieser Frage äußert Magness einige Gedanken. Ich empfehle allen denen, die Trainingsprozesse planen, begleiten und verantworten, das eigene Handeln einmal vorurteilsfrei zu hinterfragen. Im Wesentlichen übt er Kritik am "Durchschnittsdenken", das der (Sport-)Wissenschaft immanent ist. Und zu Fehlschlüssen führt, wenn interindividuelle Abweichungen - die ja erfasst werden - bei der Beurteilung unberücksichtigt bleiben. Folgende Tendenzen kennzeichnen sportwissenschaftliche Trainingsstudien:
  • eher kleine Probandengruppen (besonders im Leistungssport, weil begrenzt vorhanden/verfügbar oder eingeschränkt gewillt teilzunehmen)
  • zeitlich limitierte Studiendauern (i.d.R. bis 10 Wochen aufgrund eingeschränkter Verfügbarkeit der Probanden und limitierter Finanzierung)
  • äußere und ergebnisrelevante Faktoren sind schwer abschirmbar oder stabil zu halten (Lebensstil, Wetter, psychosoziale Beanspruchung, Ernährungsstatus)
  • Messschwerpunkt liegt in indirekten Leistungsparametern (z.B. VO2max, Laufökonomie etc.), nicht in der (komplexen) Wettkampfleistung. Doch die Leistungsverbesserung ist das Oberziel des Trainingsprozesses.
  • Valide Übertragung der Erkenntnisse auf andere Sportlergruppen ist nicht zwingend (z.B. Erkenntnisse bei unspezifisch trainierten Sportstudenten müssen nicht für hochtrainierte Triathleten von Bedeutung sein)
  • Qualität der Trainingsdurchführung (während Studie) ist nicht immer vollständig begleit- und kontrollierbar 
Die Ausprägungen des Studiendesigns beeinflussen die Qualität der Ergebnisse. Folgende Überlegungen sollten bei der Ergebnisbewertung und Übertragung in die Praxis Berücksichtigung finden:
  • Trainingsstudien zeichnen sich in der Tendenz durch hohe Streuungen aus. Die Wirkungsabweichungen können enorm sein. Im Extremfall wirkt eine Trainingsitntervention beim Athleten A sprichwörtliche "Wunder", bei Athlet B treten hingegen negative Effekte auf. Der Durchschnitt wird dann systematisch überbewertet. Plakative und einfache Trainingsempfehlungen sind aber gewünscht und nicht zuletzt in Medien und Verbänden "gut zu verkaufen"
  • Praktisch können sich aus diesem Grund Trainingsmethoden und -inhalte durchsetzen, die real nur für einen kleinen Teil von Sportlern zielführend sind (siehe Non-Responder-Phänomen, insofern eine genetische Adaptationshemmung ausgeschlossen werden kann). In diesem Fall wäre der Stimulus unpassend. Je spezifischer und fortgeschrittener das Trainingsziel bzw. das Leistungsvermögen, desto mehr wird dieser Gedanke an Bedeutung gewinnen
  • Aus methodischen Gründen ist es günstiger Trainingsintervention auf mutmaßliche Leistungsprädiktoren zu beziehen, wie maximale Sauerstoffaufnahme (VO2max), Laufökonomie, AANS, aber auch Enzymaktivität oder Hormonstatus. Eine Verbesserung einer dieser Variablen führt aber nicht zwangsläufig zur Leistungsverbesserung im Wettkampf
  • Trotz vermeintlich signifikanter Ergebnisse, halten viele Studien der Reproduktion (Re-Test) nicht stand. Die ist jedoch Grundlage für verlässliche Handlungsempfehlungen
Hier sollen gewiss nicht alle sportwissenschaftlichen Studien als unbrauchbar dargestellt werden. Im Gegenteil: Die Sportwissenschaft hat in den letzten Jahren hervorragende Erkenntnisse gewonnen und dazu beigetragen, den Leistungssport effektiver, effizienter und "gesünder" zu machen (das Dopingthema außen vor gelassen). Auch möchte ich nicht anfechten, dass Erkenntnisse existieren, die für 99,9% aller Sporttreibenden gelten.

Vielmehr möchte ich Euch dafür sensibilisieren, Euer Training zu hinterfragen, zu verstehen und ggf. auch einmal einen neuen Weg zu gehen. Unter Berücksichtigung der speziellen Voraussetzungen kann ein Trainingsblock x der Falsche sein. Das zu erkennen zeichnet einen guten Trainer aus. Bester Beleg dafür sind erfolgreiche Langstreckenläufer, die unter demselben Trainer, aber mit unterschiedlichen Trainingsinhalten trainieren. Oft ist dem die Beobachtung voraus gegangen, dass die Sportler der Gruppe unterschiedlich adaptieren.

Spitzenleistungen lassen sich nicht aus pauschalen Ratschlägen rauskitzeln. Hierfür ist, neben (wissenschaftlichen) Knowhow, eine Portion Fingerspitzengefühl und auch die Bereitschaft ein Wagnis einzugehen, gefragt. Ich denke, dass diese Botschaft auch im Sinne von Steven Magness ist. Viele Sportler konnten Ihr Niveau nochmals anheben, nachdem das Training analysiert und neue Schwerpunkte/Variationen eingeführt werden, die sich nicht am Mittelmaß orientierten...

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