Samstag, 5. November 2011

Ernährung beim Marathon: Fressen oder gefressen werden?


Der Titel mutet martialisch-darwinistisch an, doch im Kern steckt eine tiefe Läuferweisheit: Die Ernährung beim Marathon bestimmt maßgeblich die Güte der Laufleistung. Sie determiniert nicht nur die Endzeit - neben vielen anderen Faktoren -, sondern sogar den Grad der erlebten Beanspruchung.

Beobachtungen zeigen immer wieder, dass selbst erfahrene Läufer im Wettkampf zu geringe Mengen von Kohlenhydraten aufnehmen. Das liegt in der Vielzahl der Fälle nicht einmal am fehlenden Wissen der Läufer, Trainer oder Betreuer.

Oft sind es organisatorische Herausforderungen oder schlicht die Aufgeregtheit und Hektik an den Verpflegungsstellen, die dazu führen, dass die Nahrungs- und Getränkeaufnahme nicht hinreichend erfolgt. Wieso die Kohlenhydrataufnahme (KHA) im Wettkampf so hilfreich ist und unter welchen Bedingungen sie besonders effektiv ist, möchte ich im heutigen Beitrag diskutieren.

In der internationalen Forschung ist der Einfluss von KHA während Dauerbelastungen gut dokumentiert. Allen voran stehen hier die Ergebnisse von Asker Jeukendrup und Kollegen, welche belegen, dass sich mit einer klugen KHA-Strategie die Leistungsfähigkeit, bei Ausdaueraufgaben > 45 min, steigern lassen. Das gilt sowohl für die Leistung im Rahmen eines Zeitfahrens oder Laufen auf Zeit ("Fahre oder laufe Strecke x so schnell wie möglich") als auch bei Ausdauertests ("Fahre bei Tempo x so lange wie möglich").

Die KHA im Marathonlauf hat folgende Vorteile:
  • Der Blutzuckerspiegel im Blut bleibt konstant hoch. Ohne KHA würde der Spiegel nach zirka 1 Stunde abfallen (gut gefüllte Glykogenspeicher vorausgesetzt). Ein hoher KH-Spiegel ist notwendig, um eine größtmögliche Energiebereitstellung pro Zeiteinheit sicherzustellen. Exogen zugeführte KH, in Form von Glukose, sind schon nach 5 Minuten im Blutkreislauf nachweisbar (mithilfe von Markerstoffen die sich im CO2 des Atemgases wiederfinden).
  • Durch KHA wird Glykogen (= Speicherform des Zuckers) in Muskel und Leber eingespart. Die frühzeitige Entleerung wird hinausgezögert. Exogen zugeführte KH werden bevorzugt verstoffwechselt.
  • Ein optimal hoher Blutzuckerspiegel verbessert die motorischen Fähigkeiten. Genau genommen das Zusammenspiel zwischen Zentralnervensystem und der Bewegungsmuskulatur (Ansteuerung motorischer Einheiten). Dadurch wird eine gute Laufökonomie gesichert.
  • KHA hat einen nachgewiesenen psychologischen Effekt auf das Belastungsempfinden: Beanspruchungen werden als weniger anstrengend empfunden. Interessanter Aspekt: Allein das Zuführen von KH im den Mundraum - ohne Schluckvorgang - konnte die Leistungen bei einem 1-stündigen Zeitfahren um 2-3% verbessern - bei gleichzeitig geringere Anstrengungsempfindung. Es existieren offenbar orale Signalsysteme, die dem Gehirn frühzeitig und ausreichend "Zuckernachschub" signalisieren, auch wenn dieser schlussendlich ausbliebt.   
Es stellt sich für den Läufer unweigerlich die Frage, welche KHA-Menge denn nun für einen Marathonlauf optimal ist. Unter metabolischen Aspekten, aber auch unter Aspekten der Magenverträglichkeit. Welche KH-Typen sind besonders effektiv, ab welchem Zeitpunkt sollte die Aufnahme beginnen und welchen Einfluss hat die KHA auf die Flüssigkeitsaufnahme?

Aufnahmemenge und KH-Typen
Der Kohlenhydratstoffwechsel kann maximal 1g exogen zugeführte KH pro Minute verstoffwechseln. Damit läge die Obergrenze der Aufnahme bei 60-70 g pro Stunde (ca. 300 kcal). Zur Veranschaulichung: Das entspricht jeweils 1 Liter Sportgetränk (z.B. Gatorade mit üblichen Zuckergehalt), 600 ml Cola, 1,5 Stück Powerbar-Riegel, 3 Bananen oder 120 bis 150 mg Weingummi. Dieser Wert liegt über den Empfehlungen der einschlägigen Fachliteratur, die 40-50 g pro Stunde vorschlägt.

Eine Mehraufnahme (> 70 g/h) führt nicht zur Mehrverstoffwechselung. In Versuchen wurden bis zu 150 g pro Stunde verabreicht. Mit steigendem Aufnahmevolumen wurde lediglich die Zunahme von Magenunverträglichkeiten gemessen. Ob die KH-Menge als Ganzes oder kontinuierlich mit 1 bis 3 g/min verabreicht wird, hat keinen Effekt auf Stoffwechselrate und Leistungsfähigkeit.

Wie gut KH verstoffwechselt werden, hängt hauptsächlich von deren Zusammensetzung ab. In der Literatur wird zwischen langsamen und schnell oxidierenden KH(-Zusammensetzungen) gesprochen. So zeichnen sich Glukose, Saccharose (Rohrzucker), Maltose (Malzzucker) oder Maltodextrine (wie sie oft in Sportgetränken zu finden sind) durch eine schnelle Verstoffwechselung aus (~ 60 g / h). Fruktose (Fruchtzucker) oder Galaktose (Schleimzucker) gehören zur Gruppe der langsam oxidierenden KH (~ 30 g / h).

Eine bemerkenswerte Entdeckung Jeukendrups: Die Kombination verschiedener Zuckerarten erhöht die maximale Oxidationsrate. Beispielsweise konnten bei der Zufuhr eines Glukose-Fruktose-Mixes Oxidationsraten von bis zu 1,75 g/ min (~ 105 g/min) gemessen werden. Zu beachten ist die hohe Verabreichungsmenge von 2,4 g / min. Auch andere Kombinationen zeigen den Effekt (vgl. Abb.).

Quelle: European Journal of Sport Science, March 2008; 8 (2): 77-86
 Jeukendrup, A. E.: Carbohydrate Feeding during exercise
Dass dieser Kniff funktioniert, ist durch die Verwendung verschiedener Transportersystem im Energiestoffwechsel zu erklären. Der Glukosetransport wird mittels SGLT1 durchgeführt, Fruktose hingegen wird über GLUT5 transportiert. Beide Systeme können somit parallel arbeiten. Die Kombination Glukose und Galaktose hingegen funktioniert nicht, weil hierbei der gleiche Transporter verwendet wird. Ein Sättigungseffekt tritt ein. Als positiver Nebeneffekt wurde beobachtet, dass KH-Kombinationen weniger Magenbeschwerden hervorrufen.

Flüssigkeitsaufnahme
Die Aufnahme hoch konzentrierter KH wird häufig mit verzögerter Magenentleerung und verzögerter Flüssigkeitsaufnahme assoziert, was im Marathonlauf ein kontraproduktiver Effekt wäre. Es zeigt sich, dass KH-Lösungen mit 15 g / 100 ml, die aus einer KH-Kombination (z.B. Glukose und Fruktose) bestehen, gut verträglich sind und die Flüssigkeitsaufnahme nicht maßgeblich verzögern.

Meine Empfehlung für den Marathon:
Die KH-Aufnahme während des Marathons kann unbestritten die Leistungsfähigkeit erhöhen. Die optimale Dosis wird durch die individuelle Magenverträglichkeit determiniert. Menge und KH-Kombinationen sind im Training zu testen. Was letztere betrifft, haben die Hersteller längst reagiert und verwenden in Gels und Riegeln mittlerweile Glukose/Fruktose-Kombinationen, die mit zauberhaften Produktnamen versehen werden. Ein Blick auf die Bestandteile klärt auf. Der Zielwert sollte bei 70 g / h liegen. Experimentierfreudige können sich an die 100 g/h-Grenze heranwagen (nur o.g. Kombinationen verwenden).

Wichtig: Trotz der Vorteile von KHA im Wettkampf, gilt es nach wie vor, den Fettstoffwechsel bestmöglich einzusetzen, um möglichst lange, eine hohe Energieflussrate herzustellen. Das gelingt nur, wenn der Fettstoffwechsel seinerseits im Optimalbereich arbeiten kann (0,5-0,6 g/min). Somit ist in der ersten Belastungsstunde auf die KH-Aufnahme zu verzichten! Der erhöhte Ausstoß von Plasmainsulin hemmt die Oxidation freier Fettsäuren. Nach diesem Zeitraum bleibt der negative Effekt aus. Währenddessen wird Glykogen aus Muskeln und Leber verstoffwechselt. Die Speicher sollten reichlich gefüllt sein.

Ein möglicher Fahrplan für einen 3 Stunden-Läufer bei "normalen Wetterbedingungen":

Stunde 1: 
3x 150 ml Wasser (bis zu 600 ml realistisch, wenn verträglich und verfügbar)

Stunde 2: 
1 Powergel (~ 27 g KH) mit 150 ml Wasser, dann: 2 Powergels in Trinkflasche mit Wasser gelöst (wenn organisatorisch anreichbar, ~ 52 g KH, Trinkmenge 300 bis 350 ml); alternativ: 1 Energieriegel (39 g KH) mit 150 ml Wasser, später: 1 Power-Gel mit 200 ml Wasser (~ 27 g Kohlenhydrate)

Stunde 3:
wenn verträglich Wdh. von Stunde 2 oder, wenn eher feste Nahrung gewünscht: 1 Banane (mittelgroß, ~ 21 g KH) + 1 Energieriegel mit 150 ml Wasser (39 g KH) + 150 ml Cola (~ 15 g KH).

Alternativen existieren zuhauf. Die Mengen erscheinen groß, doch erst so werden die geforderten 70 g KH / h erreicht. Die Kernfragen bleiben: Ist alles verträglich (im Tempotraining testen!) und organisatorsisch umsetzbar? Ich habe mir vorgenommen, die Kombinationen zu testen. Über Eure Erfahrungen und Alternativen freue ich mich jedenfalls.

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