Es rückt jenes mentale Phänomen ins Blickfeld - sei es plakativ "mentale Verführung" genannt - das dazu führt, vor dem Training gesteckte Ziele einer Übungseinheit, innerhalb derselben spontan niedriger oder gar falsch anzusetzen. Mit der Konsequenz, dass das Training mit einem nach unten abweichenden Ist-Wert beendet und das Adaptationspotenzial nicht ausgeschöpft wird.
Die Ursache dafür liegt meist in der vorzeitigen Ermüdung, die meist durch eine zu hoch gewählte Belastungsintensität induziert ist. An 4 typischen Trainingseinheiten und Gedankengängen möchte ich das Phänomen veranschaulichen. Dazu biete ich 4 einfache Gegenmaßnahmen an, um der "Verführung zukünftig standzuhalten". In welchen Fällen erkennt Ihr Euch wieder?
1. Der lange Dauerlauf
Situation: Die Aufgabe lautet einen langsamen Dauerlauf über 30 km, im empfohlenen Tempobereich, zu absolvieren. Die Zusatzaufgabe: die letzten 5 km im sind im geplanten Marathontempo zu laufen. Bis zum Zeitpunkt der Pace-Erhöhung läuft das Training schon schleppend, die neuromuskuläre Ermüdung ist bereits deutlich zu spüren. Die Geschwindigkeitsanpassung ist nicht zu leisten.
Lediglich der letzte Kilometer wird etwas zügiger gelaufen, jedoch unterhalb der Zielpace. Das Minimalziel ist erreicht (Streckenlänge) - und der Vorsatz erstaunlich zügig gefasst, die Einheit beim nächsten Mal vollständig durchzuziehen. Oft ohne Erfolg.
Gegenmaßnahme: Vergegenwärtige Dir vor dem Training die Zielsetzung der Einheit. Ohne die Endbeschleunigung wird diese schlicht verfehlt. Das ist schade. Der Großteil des Trainingseffekts liegt im letzten Drittel des Laufs. Lege Dir ein Mantra zurecht, das Du Dir für den Zeitpunkt der Tempoerhöhung bereithältst, z.B. "Jetzt zählt's".
Oder nutze die Kraft der Selbstsuggestion: Stelle Dir vor, wie Du nach den ersten 25 km mit "frischen Beinen ins Rennen startest" und "nur" 5 km im Marathontempo zurücklegen musst. Wenn die Beine untolerierbar schwer sind, dann reduziere das Lauftempo vor der Steigerung und/oder streue 3-4 kurze Steigerungsläufe über 50 m ein. Jene wirken der neuromuskulären Ermüdung entgegen. Eine Person, die Dich auf dem Fahrrad begleitet, ist in solchen Situation i.d.R. motivationsförderlich.
2. Der mittelschnelle Dauerlauf
Situation: Eine klassische Zwischentrainingseinheit steht auf dem Programm. 15 km Dauerlauf mit ca. 75% der maximalen Herzfrequenz oder < 2 mmol/l Blutlaktat. Zusatzaufgabe: In den Lauf sollen 10 kontrolliert und kraftvoll gelaufene Steigerungen über 150 m (5 km-Renntempo) eingebunden werden.
Ziel: Stabilisation der aeroben Leistungsfähigkeit, neuromuskuläre Ansteuerung größerer motorischer Einheiten und Verbesserung der Laufökonomie. Nach den ersten 15 Minuten gelangt Du zur Erkenntnis, dass der "gefundene Schritt" doch für heute genug sei. Du spürst regelrechte Unlust, diese angenehme Monotonie zu durchbrechen. Es handele sich ja "nur" um einen Dauerlauf.
Gegenmaßnahme: Vergegenwärtige Dir, analog zu Fall 1, den Stellenwert der Einheit. Jedes Training erfüllt eine Funktion im Gesamtgebilde. Und so ist jeder lockere Dauerlauf zwischen den sog. Kerneinheiten von hoher Bedeutung für die Reizverarbeitung.
Die Steigerungen nicht einzustreuen, würde abermals bedeuten, auf ein qualitatives Trainingselement zu verzichten, das im Kontext der optimalen Trainingsplanung so nicht nachgeholt werden kann. Für die Praxis bedeutet das: Lauf los! Absolviere die erste Steigerung und die Restlichen gelingen Dir mit weitaus weniger Mühe.
3. GA2-Intervall-Läufe
Situation: Der Klassiker steht an: 8x 1.000 m im 10 km-Renntempo mit 2 min Trabpause. Schon die 5. Wiederholung schmerzt sehr. Nach der zähen Sechsten taucht der Gedanke auf, dass es doch für heute reiche, weil die Zielzeiten nicht zu erreichen seien.
Schon auf dem Weg nach Hause plagt Dich das schlechte Gewissen. Durch die schnell einsetzende Erholung hast Du auf einmal das Gefühl, ein weitere Wiederholung absolvieren zu können.
Gegenmaßnahme: Der Einbruch innerhalb eines Intervalltrainings kann verschiedene Ursachen haben, wie unangemessene Tempowahl, Wetter, Nährstoffstatus, Krankheit, unzureichende Erholung u.ä. Wenn gesundheitliche und trainingsmethodische Gründe auszuschließen sind, dann solltest Du Dir als Oberziel die Sicherstellung einer hohen Gesamtbeanspruchung ausrufen. Hier: in der Summe 8 km im hohen Tempo zu laufen.
In der Konsequenz kann es Sinn machen a) die Pausenzeiten zu erhöhen, bspw. auf 3 min oder b) die Pace zu reduzieren. Im letzten Fall ist es ratsam, in diesem Beispiel nach der 6. Einheit, auf die Zeitmessung zu verzichten und die letzten beiden Wiederholungen mit einer größtmöglichen Beanspruchung zu laufen. In diesem Zusammenhang ist das Erreichen von Durchgangszeiten für den Organismus bedeutungslos - im Gegensatz zum Erreichen eines optimalen Ausbelastungsgrades.
4. REKOM-Läufe
Situation: Nach dem harten GA2-Training steht ein regenerativ-kompensatorischer Dauerlauf auf dem Plan: 45 min im gemächlichen Tempo. Deine Beine fühlen sich erstaunlich gut an. Schnell kommst Du in den Trott des normalen Dauerlaufes. Am Ende fühlst Du Dich so wohl, dass der letzte km noch einmal gesteigert wird.
Gegenmaßnahme: Du ahnst es! Aufgabe ist es, betont langsam und entspannt zu laufen. Also weg mit der Navgations-Pulsuhr (lediglich Zeitmessung sei erlaubt) und raus zu einem sehr, sehr lockeren Lauf! Beobachte Deine Umgebung gezielt. Finde 3 bis 5 Dinge, die Du bis heute auf Deiner Hausstrecke noch nicht wahrgenommen hast. Oder laufe Deine Standardrunde andersherum - das wirkt Wunder.
Oder: Stelle Dir eine Denkaufgabe. Denke bewusst und intensiv über eine private oder berufliche Problemstellung nach. Das macht langsam! Alternativ: Beobachte Deine Körperhaltung. Wie bewegen sich Deine Gliedmaßen zueinander, wenn Du sehr langsam läufst. Wie fühlt sich die Muskelspannung an.
Mache aus dem REKOM-Lauf grundsätzlich etwas Besonders. Diese Trainingseinheit ist einfach zu wichtig, um sie lustlos (und zu schnell) zu erledigen.
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